Jeden Sonntag eine kleine Erleuchtung
Der November-Impuls
Licht in düsteren Zeiten
Der arbeitsfreie Sonntag schafft Freiräume für kulturelle Resilienz
von Dr. Ralf Stroh
Als hätte nicht schon die COVID-19 Pandemie das private und öffentliche Leben über die Maßen beansprucht und erschwert, kommen seit dem Frühjahr dieses Jahres auch noch die Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine hinzu. Finanzielle Sorgen und existenzielle Unsicherheit prägen das Leben bis weit in die Mittelschichten hinein. Und je länger all dies dauert, umso stärker wird spürbar, dass es gerade die ganz alltäglichen Freuden sind, die das Fundament persönlicher wie gemeinschaftlicher Lebenstüchtigkeit sind: das spontane Treffen mit Freunden und Bekannten, der gesellige Austausch im Verein, das gemeinsame Musizieren im Chor oder der Wettbewerb im Sport. Die Lockerungen, die es in diesen Bereichen des kulturellen Lebens inzwischen gibt, werden aktuell allerdings mehr als aufgezehrt durch die Frage, ob es für solche Aktivitäten in den Wintermonaten überhaupt noch beheizbare Räume gibt oder ob die explodierenden Heizkosten all das unmöglich machen.
Man könnte solche Fragen für Luxusprobleme halten angesichts der Nöte, unter denen die einzelnen Haushalte und Unternehmen zu leiden haben. Aber dass deren Widerstandkraft entscheidend davon abhängt, dass sie eingebettet sind in eine sie umgreifende und tragende Kultur mit all ihren vielfältigen Facetten, macht ein Dokument der UNESCO deutlich.
Untersucht wurde von der UNESCO die Bedeutung von kulturellen Traditionen – auch „lebendiges Erbe“ oder „immaterielles Kulturerbe“ genannt – für die Bewältigung der Herausforderungen durch die COVID-19 Pandemie. Der Bericht stammt zwar aus dem Mai 2021, aber seine Ergebnisse sind zweifellos auch in diesem Winter unvermindert aktuell.
Der „Klappentext“ der Publikation fasst deren Inhalt knapp zusammen:
„Die COVID-19-Pandemie hat das Leben von Gemeinschaften auf der ganzen Welt beeinträchtigt und dabei deutlich gemacht, wie wichtig es für die Menschen ist, ihr lebendiges Erbe weiterhin ausüben zu können. In diesem Bericht werden die Ergebnisse einer im April 2020 gestarteten Umfrage vorgestellt, in deren Rahmen 236 Erfahrungsberichte aus 78 Ländern gesammelt wurden, um besser zu verstehen, wie die Menschen ihr lebendiges Erbe während der Pandemie erlebt haben. Für viele wurde die Weiterführung ihres lebendigen Erbes zu einem wichtigen Faktor, um den Druck, der durch die Pandemie auf ihnen lastete, zu mildern“ (Kulturbericht Lebendiges Erbe in Zeiten von Covid-19, Mai 2021, Deutsche UNESCO-Kommission 2021, Rückseite der Publikation).
Der Text der UNESCO macht deutlich, dass kulturelle Traditionen kein Luxusgut des menschlichen Zusammenlebens sind, das erst dann zum Thema wird, sobald die wirtschaftlichen Herausforderungen bewältigt sind. Ganz im Gegenteil ist die Leistungskraft des menschlichen Wirtschaftens abhängig davon, dass die dazu nötigen Kräfte durch inspirierende und orientierende kulturelle Traditionen gestärkt und allererst zur Verfügung gestellt werden.
Im Bericht der UNESCO heißt es dazu:
„Dies zeigt, (…) dass die Ausübung des lebendigen Erbes selbst für viele Menschen zu einem wichtigen Mittel der Resilienz wurde und ihnen half, die sozialen und psychologischen Herausforderungen zu bewältigen, mit denen sie durch die Pandemie konfrontiert waren. (…) Insgesamt haben die Pandemie und die daraus resultierenden Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens die anhaltende Bedeutung und Relevanz des immateriellen Kulturerbes für die Bewältigung einiger der dringendsten und komplexesten Herausforderungen unserer Zeit noch verstärkt“ (a.a.O., S. 4f).
Wie vielfältig und höchst unterschiedlich das „lebendige Erbe“ ist, das die ganz besondere Färbung und Tönung des Zusammenlebens in unserem Land mit prägt, zeigt ein Blick auf die Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland. Ohne die zahlreichen in dieser Liste aufgeführten handwerklichen Traditionen finden sich in ihr etwa die folgenden Beispiele:
Choralsingen, Chormusik in deutschen Amateurchören, Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft, Friedhofskultur in Deutschland, Gemeinwohlorientierte Sportvereinskultur, Idee und Praxis der Kunstvereine, Instrumentales Laien- und Amateurmusizieren, Märchenerzählen, Niederdeutsches Theater, Oberpfälzer Zoiglkultur, Orgelbau und Orgelmusik, Ostfriesische Teekultur, Papiertheater, Posaunenchöre, Regionale Vielfalt der Mundarttheater in Deutschland, Rheinischer Karneval mit all seinen lokalen Varianten, Ringreiten, Sächsische Knabenchöre, Schützenwesen in Deutschland, Schwäbisch-Alemannische Fastnacht, Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung, Skat spielen, Volkstanzbewegung in ihren regionalen Ausprägungen in Deutschland, Weinkultur in Deutschland, Weitergabe von Wissen und Können im Brieftaubenwesen.
Ohne Zweifel fehlen in dieser Liste zahlreiche kulturellen Traditionen, die inzwischen durch Migration bei uns heimisch geworden sind, deutlich in das allgemeine Zusammenleben ausstrahlen und die aufgeführten Traditionen nicht unwesentlich mit beeinflussen und im Fluss halten – und umgekehrt.
Sie alle machen das Leben lebenswert und können gleichzeitig in ihrer Bedeutung gar nicht in finanziellen Kategorien bemessen werden. Sie sind unbezahlbar.
Ihren Wert erweisen sie im Erleben. Man muss an ihnen teilhaben, mitmachen, mittun – sie sind keine Museumsstücke, die man nur betrachtet.
Dazu braucht es Zeit – und zwar gemeinsame Zeit. Ohne solch gemeinsame Zeit verkümmern sie. Und mit ihnen die Ressourcen, deren Bedeutung und Unersetzlichkeit der UNESCO-Bericht für die Bewältigung gesellschaftlicher Krisen wie für die Zukunftsfähigkeit einer jeden Gesellschaft so deutlich hervorgehoben hat:
„Nach den Aussagen in der Umfrage (…) spielte und spielt das lebendige Erbe eine zentrale Rolle bei der Unterstützung einer nachhaltigeren und widerstandsfähigeren Ausrichtung von Gemeinschaften. In vielen Antworten wurde hervorgehoben, wie die Gemeinschaften auf ihr lebendiges Erbe als Quelle für gemeinschaftliche Solidarität, Gegenseitigkeit und Widerstandsfähigkeit zurückgriffen. Diese Werte waren ausschlaggebend dafür, dass die Gemeinschaften die Krise besser bewältigen konnten, sie sind aber auch ganz allgemein ein wichtiges Instrument zur Überwindung von Hindernissen für eine nachhaltige Entwicklung“ (S. 4f.).
Was in der Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland fehlt, ist der arbeitsfreie Sonntag. Glaubt man der für die Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes zuständigen Kommission fehlt der arbeitsfreie Sonntag allerdings nicht deswegen, weil er hierfür zu unwichtig wäre.
Ganz im Gegenteil ist der arbeitsfreie Sonntag für die zuständige Kommission eine unverzichtbare Voraussetzung für all die einzelnen kulturellen Traditionen, die in die Liste aufgenommen wurden. Als Antwort auf den Antrag der Bundesallianz für den freien Sonntag in die Liste des immateriellen Kulturerbes erhielt die Allianz nämlich folgende Antwort:
„Im Hinblick auf die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe teilt die Jury allerdings die Auffassung, die auch innerhalb der Trägergruppe der Kulturform diskutiert und im Bewerbungsformular dargelegt wurde: Beim ‚Arbeitsfreien Sonntag‘ handelt es sich zuvorderst um eine religiöse und rechtliche Regel, die als eine wesentliche Rahmenbedingung die Ausübung kultureller Ausdrucksformen allererst ermöglicht“ (Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Schreiben vom 16. April 2020).
Der arbeitsfreie Sonntag ist eine kulturelle Tradition „höherer Ordnung“, ohne die es die bunte Vielfalt unseres kulturellen Lebens kaum geben würde. Das ist jetzt amtlich festgestellt.
Mit dem arbeitsfreien Sonntag gibt es Licht am Ende des Tunnels. Ohne ihn geht dagegen bald das Licht aus.
Der Autor ist theologischer Referent für Wirtschafts- und Sozialethik am Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau
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