Der Verwal­tungs­ge­richtshof in Mannheim

Foto: VGH

 

 

1. Mai abgeschafft

Gemeinde nimmt den Tag der Arbeit wörtlich und scheitert vor Gericht

Anläss­lich der Vorbe­rei­tung des „Nagolder Früh­lings­festes” wollten der Rat und die Stadt­ver­wal­tung Nagold gemeinsam mit dem Handel gleich in zwei­fa­cher Hinsicht Gesetze aushe­beln. Der Verwal­tungs­ge­richtshof (VGH) Baden-Würt­tem­berg hat dem nun in einem Beschluß vom 26.04.2022 einen Riegel vorgeschoben.

Immer wieder versu­chen Städte und Gemeinden, den Schutz des arbeits­freien Sonn­tags zu umgehen. Beson­ders dreist gingen diesmal die örtliche Verwal­tung und der ansäs­sige Einzel­han­dels­ver­band in Nagold vor und stellten mit ihrem Ansinnen nicht nur den Sonn­tags­schutz, sondern auch einen der höchsten Feier­tage in Frage. Der VGH Baden-Würt­tem­berg hat die Sonn­tags­öff­nung durch einen Eilan­trag der Gewerk­schaft Verdi jedoch untersagt. 

Nach diesen Maßstäben stellt sich die sonn­täg­liche Laden­öff­nung aus Anlass des seit dem Jahr 2013 durch­ge­führten „Nagolder Früh­lings“ nicht ledig­lich als Annex zu einem örtli­chen Fest dar. Es drängt sich viel­mehr der Eindruck auf, dass der verkaufs­of­fene Sonntag während des „Nagolder Früh­lings“ ein inte­graler Bestand­teil dieses Fests ist und damit im Wesent­li­chen gleich­ge­wichtig neben den anderen Programm­punkten des Fests, wie Kunst­hand­wer­ker­markt, „Food Trucks“, Kinder­pro­gramm und Live-Musik, steht. Hinzu kommt, dass die Stadt Nagold im Gerichts­ver­fahren nicht hinrei­chend darlegen konnte, dass der Gemein­derat bei Erlass der streit­ge­gen­ständ­li­chen Satzung einen schlüs­sigen und nach­voll­zieh­baren prognos­ti­schen Besu­cher­zah­len­ver­gleich ange­stellt hat, nach dem die Zahl der von der Veran­stal­tung selbst ange­zo­genen Besu­cher größer sein werde als die Zahl derje­nigen, die allein wegen einer Laden­öff­nung am selben Tag — ohne die Veran­stal­tung – kämen“, so der Senat. 

Verband operiert mit Unwahr­heiten und Falschaussagen

Bemer­kens­wert ist, dass sich Rat und Stadt­ver­wal­tung, die eigent­lich zur Neutra­lität verpflichtet sind, nach der Absage die Feder vom City-Verein Nagold führen ließ. So veröf­fent­lichte die Verwal­tung auf der städ­ti­schen Home­page keine eigene Stel­lung­nahme zur Absage des Früh­lings­festes, sondern statt­dessen die des städ­ti­schen Handels­ver­eins. Beob­achter fragen sich, wer in der Stadt das Sagen hat — die Bürger und Arbeit­nehmer oder die Wirt­schaft? In der Pres­se­mit­tei­lung des Verbandes geben die Verant­wort­li­chen zudem der Gewerk­schaft Verdi die Schuld an der Absage – und leugnen und igno­rieren damit gleich mehrere höchst­rich­ter­liche Urteile. Darin, wie auch jetzt im aktu­ellen unan­fecht­baren Beschluss des VGH B‑W, wurde immer wieder fest­ge­stellt, dass eine Öffnung von Geschäften an sonn­täg­li­chen Festi­vi­täten immer nur eine unter­ge­ord­nete Rolle spielen dürfe und die Besu­cher­ströme nach­weis­lich durch die eigent­liche Veran­stal­tung gene­riert werden müssen. Die Behaup­tung des Handels­ver­bandes, „recht­lich gesehen sind Veran­stal­tungen dieser Art am 1. Mai möglich“, ist daher falsch. Denn solche Geneh­mi­gungen beziehen sich allein auf lokale Feste, nicht jedoch auf gene­relle Sonn­tags­öff­nungen. Verdi, so behauptet dagegen der Verband, habe mit dieser Klage ein Exempel statu­iert, gefährde Arbeits­plätze und gehöre zu den „Toten­grä­bern der Innen­städte“. Dabei räumen selbst IHK´S und andere Wirt­schafts­ver­bände mitt­ler­weile offen ein, dass der Sonn­tags­ver­kauf keine Absatz­pro­bleme und Leer­stände des statio­nären Handels löst und auch nicht für mehr Arbeits­plätze sorgt. Dabei war und ist man im Rahmen gesetz­li­cher Möglich­keiten „von Seiten der Gewerk­schaft grund­sätz­lich bereit, in einem Gespräch mit der Stadt die Möglich­keiten für zukünf­tige verkaufs­of­fene Sonn­tage zu bespre­chen“. so Thorsten Dossow, ver.di Geschäfts­führer in Mittel­baden-Nord­schwarz­wald. „Eine Anfrage bei ver.di im Vorfeld hätte diese Nieder­lage der Stadt Nagold verhin­dern können“ 

Kirchen gespalten

Auch die örtliche Arbeits­ge­mein­schaft christ­li­cher Kirchen hatte der Sonn­tags­öff­nung zuge­stimmt – aller­dings mit Bedenken. In einer Stel­lung­nahme gegen­über der Sonn­tags­al­lianz heißt es dazu:

Die Kirchen wurden sowohl vom Werbe­ring als auch von der Stadt Nagold ange­fragt, ob am 1. Mai aus kirch­li­cher Sicht, also im Blick auf Gottes­dienste oder gottes­dienst­liche Veran­stal­tungen, etwas dage­gen­spricht, einen verkaufs­of­fenen Sonntag zu veran­stalten. Dies ist nicht der Fall. Dies heißt nicht, dass wir als Kirchen verkaufs­of­fene Sonn­tage unkri­tisch sehen. Wir sehen zugleich aber anderen berech­tigte Inter­essen, die auch bei unseren Gemein­de­glie­dern vorhanden sind. Dennoch sehen wir diese verkaufs­of­fenen Sonn­tage kritisch, weil die Sonn­tags­ruhe nicht nur für kirch­lich gebun­dene Menschen ein hohes Gut ist. Dabei denken wir insbesondere auch an die arbei­tenden Personen, denen der freie Sonntag fehlt. …“ Klar ist für uns: Der Sonntag – und nicht nur der 1. Mai-Sonntag – ist ein beson­derer Tag, der der Ruhe der Menschen dienen soll. Im Fall des verkaufs­of­fenen Sonn­tags in diesem Jahr haben wir den Aspekt, dass es sich um den tradi­tio­nellen Maifei­ertag handelt, aller­dings nicht im Blick gehabt, sonst wäre unsere Antwort wohl anders ausge­fallen“ erklärte Pastor Matthias Walter. 

Sonn­tags­al­lianz betont Stel­len­wert des Sonn­tags und des 1. Mai

Mit Blick auf die aktu­ellen Verän­de­rungen in der Arbeits­welt wird beson­ders deut­lich, wie wichtig die Unter­bre­chung der Arbeit und gemein­same freie Zeit im Leben der Menschen sind, erklärt Wolf­gang Krüger von der Sonn­tags­al­lianz Baden-Würt­tem­berg. „Der Schutz der Sonn- und Feier­tage wird im Grund­ge­setz und in unserer Landes­ver­fas­sung ausdrück­lich gewähr­leistet. Die fort­schrei­tende Digi­ta­li­sie­rung und die immer stärker vernetzten Arbeits­ab­läufe höhlen den Sonntag stetig aus, so dass für Arbeit­neh­me­rinnen und Arbeit­nehmer auf den digi­talen Platt­formen unserer Arbeits­welt (Platt­form-Ökonomie) immer weniger gere­gelte Arbeits­zeiten erkennbar werden. Die damit verbun­dene zuneh­mende Entgren­zung der Arbeit und stän­dige Erreich­bar­keit drohen zu einer Dauer­be­las­tung für die Menschen zu werden. Nahezu selbst­ver­ständ­lich werden Ruhe und Zeit für die Familie, Freund­schaften und Hobbies, Zeit für den Glauben und Erho­lung in die verblei­benden Nischen der Arbeits­zeiten gelegt. Die Allianz für den freien Sonntag wendet sich daher gegen die Verein­nah­mung der Sonn- und Feier­tage als regu­lären Arbeitstag in jedem Zweig der Arbeits­welt und tritt für eine konse­quente Durch­set­zung des arbeits­freien Sonn­tags ein. Der Sonntag darf nicht zum Werktag werden“. 

Der 1. Mai bleibt auch in Nagold ein Feiertag

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