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Der Januar/Februar Impuls
Klang und Rhythmus des Lebens
Beim Nachdenken über die Neugestaltung der Innenstädte geht es um mehr als nur Räume
von Ralf Stroh, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau EKHN, Mainz
Die Debatte um die Neugestaltung der Innenstädte ist in vollem Gange. Allerorten werden Antworten gesucht auf die Herausforderungen der Transformationsprozesse, die das Gesicht der Innenstädte grundlegend verändern.
Die Gestaltung der Innenstädte soll den Ansprüchen einer nachhaltigen Mobilität gerecht werden und die Veränderungen im Blick haben, die sich aus dem Klimawandel für das Mikroklima der Innenstädte ergeben. Innenstädte sollen sich wieder einer größeren Vielfalt von Funktionen öffnen und Orte sein, an denen die ganze Bandbreite der menschlichen Lebensvollzüge zuhause ist, wo man einkaufen kann und wohnen, wo man sich der Kultur hingeben kann und dem geselligen Beisammensein, wo die Verwaltung des Zusammenlebens ebenso ihren Ort hat wie das politische Entscheiden. Es sind schwierige Fragen, die sich stellen. Und es sind keine einfachen Antworten möglich — umso weniger, als es nicht nur darum geht, Räume im üblichen Sinne zu gestalten, wenn man Lebensräume gestalten möchte.
Hören – schmecken – riechen — flanieren
Charakteristisch für Lebensräume ist nämlich, dass sie Räume für all unsere Sinne sind. Sie werden mit all unseren Sinnen erfahren, erlebt und erspürt. Es ist unverzichtbar, dass sie funktional sind, also dafür geeignet, in ihnen zu leben und all die unterschiedlichen Herausforderungen zu meistern, die das Leben uns stellt. Aber sie müssen eben nicht nur den Aufgaben entsprechen, die wir in ihnen erledigen wollen, sondern sie müssen zugleich unsere Sinne ansprechen – in all ihrer Vielfalt. Sie müssen nicht nur optisch ansprechend gestaltet sein und unseren Sehsinn erfreuen. Auch wie es sich anfühlt, in ihnen zu leben, was es in ihnen zu riechen und zu schmecken gibt — noch bevor uns ein Restaurant oder eine Bäckerei mit ihren Düften und Genüssen betört – entscheidet darüber, ob wir uns an einem Ort zuhause fühlen.
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Die salzige Meerluft in einer Küstenstadt, die wir auf unseren Lippen schmecken und mit unserer Nase riechen, macht den besonderen Reiz dieses Ortes ebenso aus, wie die Düfte und Winde einer Stadt im Gebirge. Der Klang der Schritte in den engen Gassen einer Altstadt oder das Geräusch, wenn wir über weitläufige Promenaden flanieren oder uns in Arkadengängen ergehen, ist so entscheidend für unsere Wahrnehmung eines Ortes, dass uns der Wein, den wir dort genossen haben, zuhause vorkommt, als hätten wir die falsche Flasche mitgenommen – so anders schmeckt er, wenn er fern des ursprünglichen Erlebnisses getrunken wird.
Erleben! Oder nur leben?
Ein Lebensraum ist mehr als ein Ort, an dem es Einzelnes zu erleben gibt und der einfach nur eine Fülle an Einzelerlebnissen präsentieren will. Noch so viele interessante Einzelheiten machen keine Einheit aus, schaffen keine unverwechselbare Atmosphäre, lassen uns nicht den Reiz eines Ortes erleben, sondern nur künstliche Nachahmungen, die es anderswo auch geben mag. Wenn ein Erlebnisraum nicht zuvor ein Lebensraum ist, dann taugt er auch nichts als Erlebnisraum. Ein besonders bedeutsamer Sinn ist bei alledem der Zeitsinn. Auch hier erleben wir nicht nur einzelne Momente, sondern alle Erlebnisse sind eingebettet in einen Erlebnisstrom, der seinen ganz eigenen Rhythmus hat. Die Stadt klingt, riecht, schmeckt anders an einem Morgen als an einem Abend, an einem Mittag anders als in der Nacht, an einem Werktag anders als an einem Feiertag oder Sonntag. Ein Lebensraum ist ein Ort, an dem gelebt wird. Und gelebt wird nur dort, wo es den Wechsel gibt.
Lebens- und urbanen Rhythmus in Einklang bringen
Wo sich die Dinge ändern, wo es Abwechslung gibt und das heißt, wo es nicht immer gleich ist, sondern in einem bestimmten Takt anders riecht, anders klingt, anders schmeckt, anders aussieht. Nur wo solcher Wandel seinen Ort hat, ist ein Raum ein Lebensraum. Darum gilt: Beim Nachdenken über die Neugestaltung der Innenstädte geht es um mehr als nur Räume. Es geht um die Gestaltung von Klang und Rhythmus des Lebens. Wo die Geschäftigkeit pausiert, pausiert das Leben genauso wenig, wie die Musik endet, wenn es eine Pause gibt. Die Pausen sind ebenso Musik, wie dasjenige Leben ist, was nicht Geschäftigkeit ist.
Am arbeitsfreien Sonntag wird das Leben nicht unterbrochen, sondern es wird gelebt – nur eben anders. Auch dafür muss die Stadt Lebensraum sein, wenn sie denn Lebensraum sein will.
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